Wint, Simon


Das falsche Meer


Nina war aufgeregt wegen des Winters, also trug sie zum Frühstück ihre Skischuhe. »Das ist zu laut«, sagte ihr Vater zum dritten Mal. »Du wirst die Nachbarn wecken mit deinem Stapfen.« Aber er lächelte, als er es sagte, weil er eigentlich froh war, dass seine Tochter im August Skischuhe zum Frühstück trug; sie war eben ein ganz normales fünfjähriges Kind. »Lass sie doch.« Joanna klang noch halb tot. Ihre Augen waren in letzter Zeit nur selten vor zehn Uhr richtig offen und dann nur halb so grün wie damals. »Es ist erst acht Uhr.« Steven sprach in seine Zeitung hinein – er konnte Joanna heute noch nicht ansehen. »Na, und? Ich scheiße auf die Nachbarn!« Steven konnte bis zum Esstisch den Geruch vom Bett riechen – diesen Duft von Baumwolle und Haaren und noch lauwarmen Träumen. Ihr Pyjama hing von ihren Schultern und sie schenkte sich eine Tasse Tee ein, und für einen Moment war das einzige Geräusch in der Küche das von rinnendem Tee. »Sie machen auch genug Lärm. Erinnerst du dich an letztes Wochenende? Gott weiß, was sie gefeiert haben!« Joanna drehte sich zum Tisch, und Steven starrte weiter auf die Todesanzeigen. Wie lange wird es dauern, dachte er. Wie viele Jahre muss ich in diesem Ort leben, bis ich irgendwann die Gesichter der Toten in der Zeitung kenne?

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Wint, Simon

Das falsche Meer

Erzählung

21 Seiten

2,50 Euro

Restexemplare beim Verlag

ISBN: 978-3-938801-09-3

Hamburg 2006