100 Jahre Surrealismus oder »Wie man eine Bewusstseinskrise auslöst«
Nun werden zum Jubiläum erstmals die komplett übersetzten zwölf Hefte der Zeitschrift von dem Hamburger Textem Verlag im originalen Layout herausgegeben. Es ist zu hoffen, dass diese großartige Edition hierzulande endlich die »verstörten Anhänger« finden wird, die sich Redaktionsmitglied Antonin Artaud seinerzeit gewünscht hatte.
Die Zeitschrift – von 1929 an hieß sie »Der Surrealismus im Dienst der Revolution« – zeugt davon, dass die Gruppe weit mehr als eine bloße Kunstrichtung war.
Nach eigener Aussage wollten die Surrealisten nichts weniger als eine »möglichst ausgedehnte und schwerwiegende Bewusstseinskrise« auslösen, den »Pessimismus organisieren« und »die Welt wiederverzaubern«.
Lest hier den ganzen Artikel.
„Blaubart, Blut und Dinge“ lautet der Titel des vierten Bandes der Sammlung von Grimms Märchen im Textem Verlag. Thematisch ist die Zusammenstellung sehr interessant und von Henrik Schrat durchgängig optisch gestaltet worden. Da es sich jedoch bei den Illustrationen um absichtliche Anachronismen handelt, hängt deren Eignung stark von der Wahrnehmung des jeweiligen Rezipienten ab. Man kann jedoch mit Sicherheit festhalten, dass die Gesamtreihe mit allen fünf Bänden für all jene, denen der Stil gefällt, zu einem Schmuckstück der eigenen Sammlung werden kann.
Die ganze Rezension, erschienen bei literaturkritik.de, gibt es hier.
(...)
Zum Layout des Buches gehört die Abbildung eines Esels, auf dessen Rücken eine Konstruktion angebracht wurde, die ihm eine Karotte vor das Maul hält. Das Bild repräsentiert Hirschs Ausgangsthese, die er als "Unbehagen in der Kulturarbeit" bezeichnet. Allgemein meint dieses Unbehagen die falsche Hoffnung von Arbeiter*innen - gemeint sind vor allem freischaffende Künstler*innen, allerdings gelten viele Aspekte auch für Kulturmanager*innen -, durch Leistung im Kulturbetrieb zu einer etablierten Existenz gelangen zu können. Der Aufstiegsmythos gelte als Norm für die Mehrheit, gehe aber nur für eine Minderheit tatsächlich in Erfüllung. Dieser Widerspruch, den Hirsch mit der Kulturwissenschaftlerin Lauren Berlant als "grausamen Optimismus" bezeichnet, mache das "falsche Leben" aus, das von permanenter Überforderung gekennzeichnet sei. Verinnerlichte Zwänge zur Mehrarbeit und Überproduktion führten zu einer Vorstellung, in der das Beschäftigt-Sein mit Wichtig-Sein in Verbindung gebracht werde, was wiederum ein schlechtes Gewissen zur Folge habe, wenn man sich nicht an die Norm hält.
(...)
Würde eine solche kognitive Befreiung zu einer Befreiung auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene führen? Der Text erhofft es sich zumindest. Mit nur 135 Seiten bietet der Band jedoch kaum Platz für eine tiefgehende Ausführung. Als Manifest eignet sich sein Text schon eher. Das gab Hirsch in einem Gespräch beim Chaos Computer Club auch so zu. Hier bezieht er erstens eine klare Stellung zu der aktuellen Lage im Kulturbetrieb und findet treffend-einprägsame Benennungen für altbekannte Unbequemlichkeiten. Zweitens versucht er nachdrücklich, eine Vision eines guten und richtigen Lebens zu mobilisieren, denn glaubwürdige alternative Entwürfe fehlen oftmals in scharfsinnigen Kulturanalysen. In dieser Hinsicht wirkt der Aufsatz des Autors erfrischend.
(...)
Von Daniel Ivanov
Hier gibts die ganze Rezension
Hier gehts zum Buch
Wenn der Tresen untergeht
Ein Buch über das Ende einer nordfriesischen Seefahrerkneipe stellt Fragen an die deutsche Gewaltgeschichte: »Ein Lied vom Leben« von Kai Ehlers
– Lutz Klüppel in nd
Diese Geschichte vom »Tod einer Hafenkneipe« wird vom Ende her erzählt – in der ungewöhnlichen Form eines Fotoromans. Claus-Otto Menden wurde mit der Bewirtschaftung einer traditionsreichen, seit fünf Generationen bestehenden Hafenkneipe in Wyk auf der Nordseeinsel Föhr beerbt. Eines Weihnachtsabends bleibt die Kneipe verschlossen, der Wirt unauffindbar. Die Spürhunde nehmen seine Fährte bis zum Steg auf. Er ist »ins Wasser gegangen«, hat sich ertränkt in der eiskalten Nordsee. Es folgen 13 Kapitel, die Titel führen wie »Bei Tante Herta«, »Arbeit Ambition Alkohol Amerika« und »Hundeleben«, mit über 200 Abbildungen. Der Text besteht zum Großteil aus anonymisierten Gesprächen, die der Autor Kai Ehlers über zehn Jahre hinweg mit über 40 Personen geführt hat.
(...) Es ist, als hätte der Autor die Kneipe für eine letzte Schicht noch einmal geöffnet und dem Stammpublikum am Tresen während einer langen Nacht mit unzähligen »Köm«, dem beliebten Aquavit, im Zigarettenqualm zugehört. Bruchstückhaft und nie linear erzählen die anonymisierten Stimmen von der Geschichte dieses sonderbaren Ortes, der mit seinem Wirt unterging.
(...) Anstatt uns einen weiteren norddeutschen Regionalkrimi zu bescheren, erzählt »Tod einer Hafenkneipe« von mehr als dem plötzlichen Tod eines Wirtes. Öfters muss man bei der Lektüre an W. G. Sebald und seine Idee einer »Naturgeschichte der Zerstörung« denken. Unser Blick wird auf die vergessenen Hinterlassenschaften einer zerstörerischen Geschichte gelenkt, die über das tragische Einzelschicksal hinausweist. Es ist gut, dass der Autor die Sammlung noch einmal abgelichtet und die Zeitgenossen dazu befragt hat – bevor alles entrümpelt, entsorgt und vergessen wird, als wäre es nur das Mobiliar aus der Wohnung eines Toten.
R E V I E W
Seen through the Visions
of Young and Old Germans
William Blake’s The Ancient Britons: A Book
and a Website (Now Vanished) Reviewed by Sibylle Erle
The book starts with an extract from Henry Crabb Robinson’s article on Blake, published anonymously in German in Friedrich Perthes’s short-lived Vaterländisches Museum (1811). Robinson introduces The Ancient Britons as “Blakes grösstes und vollendetstes Werk” (“Blake’s biggest and most accomplished work”) and identifies the qualities of the three Ancient Britons (strong, beautiful, ugly) with Blake’s descriptions translated into German (7). The Ancient Britons team accept the painting as lost and anticipate the expectations we might have by proposing that their work is not an act of restoration but a cure for the painful absence of Blake’s masterpiece. The book’s subtitle announces the team’s creative task and artistic conceit: Erscheinungen eines verschollenen Bildes/Appearances of a Vanished Picture. The words are carefully chosen—it is impossible for the lost painting to “manifest”; “appear” suggests that what “vanished” still exists but is not visible (“verschollen”); it can be returned to sight. (...)
Here, the team delineate how they “succeeded … in letting this … largest work by Blake reappear using old and new techniques.” They write, “We attempted to gain access to the lost painting via inner visualizations, facilitated during a seminar week at the Bodensee by a group trance guided by the hypnosis researcher and Mesmer specialist Walter Bongartz” (14-15).10 The group trance was complemented by a “phase of joint reconstruction,” where “individual ideas were compared with the details of Blake’s description of the picture.” (...)
In the end, this exercise says and shows much about the ingenuity of Blake’s ongoing German reception. Like Blake’s exhibition of 1809, the exhibition curated by the Ancient Britons team presented the absence of visitors as a test case for greatness. Even though COVID regulations rather than lack of interest prevented audiences from attending, nonattendance and ignorance were counted as contributions to this show’s success. The tone of defiance in the announcement is all too familiar; Blake, too, despite everything, would not be deterred. The exhibition of 2020 has vanished; it reappeared on the website and endures in the book. The creation of the website and publication of the book perpetuated and propelled the project’s momentum, but one fact remains: hardly anyone saw the exhibition and, since the website has vanished, hardly anyone will be able to imagine it, unless another Kirkup comes along. Nevertheless, the Ancient Britons team has left us, in my opinion, with a “surrogate” for Blake’s lost painting (Eaves 533). Granted, the digital montage can never replace The Ancient Britons, but the space that has been left deliberately empty in the past has been temporarily filled. Will other “surrogate” paintings follow? This undertaking highlights, beyond any doubt, something fundamental about Blake: how productive “mis-readings” of his art and poetry can be, especially in a wider European, if not global as well as transhistorical, conversation about Blake. (...)
Brutale Wissenschaft
Die Biologin Anne Christine Schmidt berichtet vom »Alptraum Wissenschaft«: wie sie insgesamt 15 Jahre lang durch abscheulich prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Universitätsbetrieb schritt, sich dabei ihre körperliche und geistige Gesundheit ruinierte und in absurden Hierarchien so gedemütigt wurde, dass sie im allerletzten Moment ihre Habilitation abbrach. Letztlich katapultierte sie ihr »Habil-Papa« aus dem Wissenschaftsbetrieb hinaus, weil er jenseits aller Fristen 24 Monate brauchte, um ein Gutachten für ihre Habilitationsschrift zu verfassen, das er dann auch noch sehr negativ formulierte. War es enttäuschte Liebe? Nein, nur enttäuschte Eigenliebe. Es reichte schon, dass Schmidt völlig korrekt seine ihr gestellten schikanösen Aufgaben verweigerte, weil sie nicht in ihren Aufgabenbereich fielen.
"Sabina" ist ein wundersames Buch. Kein Roman, kein Sachbuch, keine kunsthistorische Abhandlung und auch kein Bildband, dafür ein Hybrid aus all dem zusammen. In feinsinnig ironischem Ton geschrieben, vereint es Fotografien, historische Dokumente, Romanauszüge, Gemälde und Originaltexte zu einer raffinierten Geschichte, gerahmt durch den fiktiven Austausch zwischen einer Herausgeberin und einer geheimnisvollen Figur namens „W.“, eine Art Alter Ego und romantischer Verdoppelung der Künstlerin Wiebke Elzel. (Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 7. 2023)
Grimms Märchen neu Aufgelegt: Im tiefen, dunklen Wald der Wörter ... Auch das Layout im Buch bleibt wohltuend schlicht, die Zeichnungen fügen sich luftig und schlüssig in die sprach- und modernesensibel überarbeiteten Erzählungen. Es sind keine effekthascherischen Bilder, Henrik Schrat bleibt in seinen Darstellungen sachlich und zurückhaltend schwarz-weiß, die vielen Kilometer der Strichführung sind souverän in dem, was er umrandet und in dem, was er weglässt. Er bleibt in der Darstellung ambivalent, wie die Märchen eben sind; die Bilder werden nie anbiedernd-fröhlich oder gar – Verzeihung – disneyhaft, sondern verharren nachdenklich und schlüssig in ihrer düsteren Dichte. Wie ein dunkler Wald, den die Wörter durchqueren. Die Figuren bringen auch den Humor in die
Und sie führen uns in das Heute, hinaus aus der Grimmschen Vormoderne und dem mitteldeutschen, hexenbewohnten Urwald, hinein in die Hochhausschluchten, zu den Motorrädern und Einwegrasierern unserer heutigen Umwelten und Betonsteppen. Das ist mutig und es glückt ...
Link zum Buch, Grimms Märchen, Lumpengesindel – Tiere & Menschen
"JUNGE KÜNSTLERINNEN. Die Kunst dieses Moments
Olga Hohmann und Nora Turato gehören zu einer neuen Generation von Künstlerinnen, die jenseits der Gattungsgrenzen Ausdrucksformen für die Gegenwart finden.
... Das Haus gehört zu den seltsamen Neubauten, die hier in den letzten Jahren errichtet wurden – beige Sandsteinfassade, Eingang mit viel Marmor, diskrete Aufzüge mit braun bedampften Spiegeln, in denen man gesünder und weniger gestresst aussehen soll, als man es vielleicht ist, unten ein paar Büroetagen und oben höllisch teure Wohnungen, in denen nie jemand wohnt, weil sie bloß als Wertanlage gekauft wurden.
… Jemand rief, dass es jetzt losgehe, ... und die Künstlerin Olga Hohmann begann ein paar Texte vorzulesen, die so überraschend und klug waren, dass man unwillkürlich daran denken musste, dass keine zweihundert Meter entfernt von diesem etwas käsigen Luxusneubau vor etwas weniger als hundert Jahren eine junge Dichterin namens Mascha Kaléko im Romanischen Café saß und Gedichte schrieb und vorlas, die noch heute mehr über den Zauber und die Abgründe des Berlins der Zwanzigerjahre erzählen als die meisten Geschichtsbücher. ... Die Texte, die Olga Hohmann bei ihren Auftritten vorträgt, spüren den Seltsamkeiten und Abgründen der Gegenwart im Privaten wie im Politischen mit einem ganz eigenen erzählerischen Ton nach. Teile dieser Texte sind nun auch in einem Buch nachzulesen (Olga Hohmann, „The Overview Effect“, Textem Verlag, 276 Seiten). ... Man kann das alles als eine experimentelle literarische Erzählung aus dem Herzen der Bundesrepublik lesen oder auch als Teil eines größeren Kunstprojekts verstehen. Vor allem ist es eine neue Art, jenseits der klassischen Sparten die noch ungehobenen Phänomene der Gegenwart sichtbar und beschreibbar zu machen. Für den Kunst- und Literaturbetrieb ist diese neue Entwicklung eine gute Nachricht. Es passiert ja selten genug, dass eine Person beide Welten gleichzeitig in Aufruhr versetzt und neu belebt."
Link zum Buch von Florian Endres & Olga Hohmann, The Overview Effect
Peer Jürgens schreibt zu Grimms Märchen, neu illustriert von Henrik Schrat auf Literaturkritik
Henrik Schrat bebildert Grimms Märchen neu und katapultiert sie ins Heute
Es ist eine Mammutaufgabe, die sich Henrik Schrat hier vorgenommen hat. Trotz der unzählbaren Anzahl an Ausgaben der Grimm’schen Märchen widmet sich der Berliner Künstler genau dieser Textsammlung – und das auf eine besondere Art und Weise: Schrat stellt die Texte der Märchen, die auf der Ausgabe letzter Hand (1857) fußen und nur minimal geändert wurden, mit Bildern in einen völlig neuen Kontext. Bei den Bildern handelt es sich dabei ausnahmslos um Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die mal ganzseitig und mal in kleinem Format quer durch den Text springend platziert sind. Stilistisch sind sie dabei an Graphic Novels angelehnt, oft düster, manchmal mit wenigen mächtigen Strichen, mal fein und detailliert. Allein wegen dieser Zeichnungen lohnt sich der Kauf des Buches und man wünscht sich, diese Bilder in einer Ausstellung bewundern zu können.
Die Faszination begründet sich aber nicht allein in den kunstvollen Zeichnungen Schrats. Er schafft es, wesentliche Aspekte der Märchen herauszufiltern und mit seinen Kunstwerken zu verstärken. Dabei lässt er manche Märchen in der Neuzeit spielen, andere erhalten einen ungeahnten Kontext. So kommt zum tapferen Schneiderlein nicht die Mus-Frau, sondern der Pizza-Service, Bruder Lustig kommt optisch wie Rambo daher, der Schneider im Himmel ist Karl Lagerfeld wie aus dem Gesicht geschnitten und die böse Fee in Dornröschen fährt auf einem Motorrad zum Fest. Überhaupt erinnern viele Zeichnungen an Fantasy-Geschichten oder zitieren aktuelle Popkultur: Man trifft u.a. Darth Vader, Gandalf, Winnie Pooh und Keanu Reeves; das Mädchen ohne Hände bekommt Cyborg-Hände, die auch zum Terminator gepasst hätten. Ein ganz eigenes, über die schon erwähnte düster-melancholische Stimmung hinausreichendes Flair bekommt das Buch, weil Schrat die Handlung oft aus dem märchenhaften Wald in urbane Räume überträgt. Die Held*innen laufen durch Häuserschluchten, spazieren an einem Dönerstand vorbei und fahren mit SUVs. Immer wieder trifft man auf bekannte Orte: die Gedächtniskirche, das Kanzleramt (mit Burgturm) und das Kottbusser Tor in Berlin oder den Hamburger Hafen mit Elbphilharmonie, in dem der Fischer den Butt fängt.
Das alles ist spannend und toll arrangiert. Natürlich werden Grimm-Purist*innen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber Schrats Interpretation wirft nicht nur ein anderes Licht auf die Texte und ihre Botschaften, sie ermöglicht auch neuen Leser*innen den Zugang zu den oft als veraltet daherkommenden Märchen. Die Zeichnungen lassen einen außerdem beim Blättern immer wieder bei eher unbekannten Texten stoppen.
Schrat bewältigt die Menge an Märchen (er nimmt nicht nur die 200 aus der Ausgabe letzter Hand, sondern alle 240, die im Laufe der Edition in den Kinder- und Hausmärchen erschienen sind), indem er sie auf fünf Bände verteilt. Dabei geht Schrat nicht chronologisch vor, er sortiert die Texte thematisch. Zwei der fünf Bände liegen nun vor. Während der erste Band unter dem Motto „Schneefall, Himmel und Hölle“ steht, trägt der zweite Band den Titel „Dornenrose, Liebe und Reise“.
Zwei kleine Mankos seien erwähnt: Erstens hat Schrat leider die Märchen, welche bei den Grimms im Dialekt verfasst sind, nicht so belassen. So verlieren z.B. Der Fischer und seine Frau oder Der Machandelbaum ein wenig von ihrer ursprünglichen Kraft. Und zweitens lassen die Qualität und die Wucht der Zeichnungen im zweiten Band bedauerlicherweise etwas nach. Das alles soll aber nicht die Vorfreude auf den dritten Band schmälern. Wenn dann in drei Jahren hoffentlich alle Bände vorliegen, ist diese Sammlung ein Muss in den Regalen von Märchen-Liebhaber*innen, Grimm-Fans und Graphic-Novel-Enthusiast*innen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
https://dasorchester.de/artikel/musik-und-homosexualitaeten/
Das mit Fadenbindung ansprechend gestaltete Paperback bündelt die Beiträge der Veranstaltungen „Stand und Perspektiven musikwissenschaftlicher Homosexualitätenforschung“ (2017) und „Homosexualitäten und Manierismus“ (2018) an der Hochschule für Künste Bremen. Ein ganz weites Feld.
Hans-Joachim Hinrichsens Anmerkungen zur Steblin-Solomon-Debatte über Franz Schubert sind paradigmatisch für die Fragilität von Forschungen über den Einfluss sexueller Identitäten und Neigungen auf Musik, deren Erleben und Verständnis. Das bestätigt sich in spannenden Seitenaspekten wie in Wolfram Boders Aufsatz über „Die Erste Sinfonie des Spohr-Schülers Hugo Staehle“. Kevin Clark plädiert für die wesentliche Bedingtheiten freilegende Fokussierung auf „Homosexualität als Thema der Operettenforschung“, da viele Protagonist:innen dieser Kunstform mit Witz und Ernst eindeutig-zweideutige Masken des Begehrens inszenierten und so performative Akteure in latenten und offenen Diskursen wurden.
Kadja Grönke hört und analysiert Henze und Reimann nach der Prämisse von Roland Barthes. Dieser beschrieb die Bedeutung der Körperlichkeit von Interpret:innen, vor allem deren Stimmen, für das Erleben von Musik. Der abschließende Teil erweitert den Fokus um außermusikalische Themen wie Dieter Ingenschays „Manierismus und Neu-Barock in der lateinamerikanischen Schwulenliteratur“. Durch die von Judith Butler angestoßenen Diskurse über Pluralis-mus und Performationen des Geschlechtlichen wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „queerer“ Praxis und ihrer Rezeption nicht einfacher. Das Erkennen textueller bzw. tönender Codes als homosexuelle Signale vergangener Epochen bleibt aufgrund möglicher Missverständnisse unsicher. Methodisch fundierte Approximative führen nicht immer zu Gewissheiten.
Wichtig sind dennoch fast alle Fragestellungen des Bands bis zur korrekten Erwähnung der sexuellen Identität von Musiker:innen in Lexikonartikeln mit dem Ziel einer Sichtbarmachung von Musikinhalten und deren Anlässen. Ob für das sachliche und emotionale Verstehen das Wissen über die sexuelle Orientierung der Urheber:innen notwendig ist, darüber gibt es derzeit keine Einigung.
Bei Ethel Smyth kann von dem häufigen Verdrängen ihrer sexuellen Identität in der Sekundärliteratur ausgegangen werden, weil ihr Leben und Werk gleichgeschlechtliche Diskursanlässe beinhaltet. Das Erspüren schwuler Codes in Kompositionen des wegen homosexuel-ler Betätigung gerichtlich verurteilten Frührenaissance-Kapellmeisters Nicolas Gombert ist dagegen ein komplexes Unterfangen. Gombert lebte in einer Zeit, in der männliche Homosexualität als Sodomie definiert wurde und wie jede nicht zum Zweck der Zeugung ausgeübte sexuelle Handlung als Sünde gegen die Religion galt. Unter solchen Prämissen sind die Aufsätze ein wichtiges Plädoyer zum vielschichtigen Verstehen von Musik.
Roland Dippel
»Kulturarbeit« heißt Ihr neuestes Buch. Schon beim Titel bleibe ich kurz hängen: Ist doch heute häufiger von »Kreativwirtschaft« oder - nebenher historisch vorbelastet, weil von den Nazis geprägt - von »Kulturschaffenden« die Rede. Warum stattdessen »Kulturarbeit«?
Da es in dem Buch nicht nur um Kunst und Kultur, sondern auch um andere intellektuelle Tätigkeiten wie Wissenschaft oder Journalismus geht, schien mir zum einen der Begriff »Kulturarbeit« der allgemeinste. Zum anderen möchte ich mit dem Wort »Kulturarbeit« eben nicht so sehr die im ökonomischen Sinne wertschöpfende Arbeit beleuchten, sondern die im symbolischen, ethischen und politischen Sinne wertschöpfenden Arbeiten. Es geht also um ein bestimmtes Modell des Tätigseins und Arbeitens. Um ein Modell, das sich gerade von der Rechtfertigung durch ökonomische oder volkswirtschaftliche Nützlichkeit unterscheidet und emphatische Eigenwerte produziert. Schließlich möchte ich mit dem Insistieren auf dem Begriff der Arbeit aber auch betonen: Bei aller Autonomie bleibt es eben immer auch Verausgabung menschlicher Arbeit und Arbeitszeit, die, wie andere Formen von Arbeit auch, Formen der Herrschaft, der Ungleichheit und der Entfremdung ausgesetzt ist.
Zum Interview in ND: Der Philosoph Michael Hirsch spricht über sein Buch »Kulturarbeit«
Zum Buch: Kulturarbeit, Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure
... Je vertrauter das Fremde wurde, desto fremder wurde zugleich das Vertraute. Wer einmal vom Baum ethnographischen Wissens gekostet hat, findet selten zurück in die paradiesische Unschuld unhinterfragter Selbstverständlichkeiten. Stattdessen führen Ethnologen ein Leben als professionelle Fremde in den Randbezirken der Gesellschaft – der fremden wie der eigenen. Dieses Randfigurendasein teilen sie seit jeher mit einer Reihe anderer Berufsgruppen: Schmiede, Zauberer, Scharfrichter, Narren und – Künstler. Und die Gemeinsamkeiten enden
hier noch lange nicht. (...)
Auf die Ähnlichkeiten zwischen ethnologischer und künstlerischer Arbeit ist schon oft hingewiesen worden. Nicht zuletzt geht es in beiden darum, liebgewonnene Gewissheiten
in Frage zu stellen und aus der Konfrontation mit bislang unbekannten Sinngebungsstrategien neue Perspektiven auf die Welt zu eröffnen.
Rezensiert von Holger Jebens. Erschienen in Paideuma 67 (2021)
(Link zur Rezension von Holger Jebens)
Relevanz von Homosexualität für das Leben, Denken und Schaffen komponierender, musizierender und rezipierender Menschen | Ergebnisse von zwei Tagungen an der HfK Bremen 2017/2018 | 25 Beiträge, Aufsätze, Essays zur LBTIQ-Musikwissenschaft | Herausgeber: Michael Zywiedtz (HfK Bremen) und Kadja Grönke (Universität Oldenburg) | Textem Verlag
Der schwule Komponist Hans Werner Henze schrieb in seiner Autobiographie Reiselieder mit böhmischen Quinten: "Eines Tages hat dann wohl die Frau Mamma, die meinige, ihrem Gemahl von irgendwelchen sie beunruhigenden Dingen aus meinem mutterseelenallein und schuldlos sich abspielenden, gänzlich verschwiegenen Privatleben Mitteilung gemacht (...), was zur Folge hatte, dass eines Tages der Meisterpädagoge (gemeint ist der Vater) mich herbeipfiff und mir Unvergessliches sagte: dass 'Leute meines Schlages' ins Konzentrationslager gehörten."
"MUSIK UND HOMOSEXUALITÄTEN" IM TEXTEM VERLAG
UNSINNLICHES ZUM THEMA SINNLICHKEIT
Vorab: Forschungen zu ‚Musik und Gender‘ umfassen auch die Frage nach der Relevanz von Homosexualität für das Leben, Denken und Schaffen komponierender, musizierender und rezipierender Menschen. In der musikhistorischen Biographik hat dieser Aspekt seinen Raum bereits gefunden; in musikzentrierten Betrachtungen steht er jedoch oft im Schatten des Themas ‚Frau und Musik‘ oder der Suche nach queeren Perspektiven. Der vorliegende Sammelband setzt die Pole Musik und Homosexualität wechselweise zueinander in Beziehung und bringt Methoden benachbarter Disziplinen erkenntnisfördernd mit ein. Auf diese Weise entstehen neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für die Themenfelder ‚Mensch und Werk‘ (Ethel Smyth, Karol Szymanowski, Peter Tschaikowsky, Richard Wagner), Gattungen (Kabarettchanson, Gay Musical, Filmmusik) oder Theoriebildungen. Anhand von ausgewählten Einzeldarstellungen kommen unterschiedliche Betrachtungsweisen des Wechselspiels von Musik und Homosexualität zur Geltung und regen zu weiterer Forschung an. Im bereits 2010 erschienenen dicken Lexikon „Musik und Gender“ von Annette Kreutziger Herr und Melanie Unseld wird „Homosexualität“ als bereits 1869 geprägter Begriff definiert, der das „Innenleben homosexueller Männer und Frauen biologisch und psychisch zu erklären“ versuchte. (Quelle Textem Verlag)
Treffen sich Psychoanalyse und Kulturwissenschaft
Insa Härtel erklärt, warum die Psychoanalyse sich nicht nur für Subjekte auf der Couch interessiert und die Kulturwissenschaft immer wieder auf psychoanalytische Ansätze zurückgreift - und es trotzdem nicht ausschließlich harmonisch zugeht, wenn beide sich begegnen
Von Lilli Helmbold
weiter lesen bei nd
zum Buch "Reibung und Reizung" Hg. von Insa Härtel
Noch immer anders als die Andern. Kampfansage an die Klassikwelt: Der Essayband »Musik und Homosexualitäten« legt eine unter den Tisch gekehrte Seite der Kulturgeschichte offen
Von Kevin Clarke (erschienen in der Tageszeitung nd)
Von »Reformstau« ist ja immer mal wieder die Rede, wenn’s um Dinge geht, bei denen Deutschland weit hinterherhinkt im Vergleich zu anderen westlichen Ländern. Felder, in denen die Bundesrepublik Deutschland in der Steinzeit verharrt, sind zum Beispiel das akademische Fach Musikwissenschaft sowie der Umgang mit den Biografien klassischer Musiker.
Bereits 1994 kam in den USA das Buch »Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology« heraus, mit Essays zu schwul-lesbischen Perspektiven auf die Musikgeschichte. Die prominenten Autoren rund um Philip Brett und Elizabeth Wood waren allesamt Professoren an renommierten US-amerikanischen Universitäten. Sie stießen mit ihrer Publikation in der englischsprachigen Welt eine Tür auf, wodurch sie es ermöglichten, offen(er) über die Verbindung von sexueller Orientierung und Musik zu reden, offen(er) übers Privatleben von Künstlern zu diskutieren und auch offen(er) die besondere Beziehung von schwulen und lesbischen Musikfans zu bestimmten Werken zu analysieren.
In Deutschland wurde dieser Impuls aus den USA - trotz einer Aufbruchstimmung nach der Wiedervereinigung - komplett ignoriert. Bis Michael Zywietz 2007 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Künste in Bremen geworden war und es sich in dieser Position endlich erlauben konnte, Homosexualität als Thema von Lehrveranstaltungen und Konferenzen anzusetzen. Hätte er das bereits vorher getan, als er noch in Münster oder Tübingen auf der akademischen Karriereleiter nach oben klettern wollte, wäre er womöglich nie zu diesem Posten gekommen. Weil die entsprechenden Berufungskommissionen eher naserümpfend auf derartige Themenschwerpunkte schauten und sie als »nicht seriös« einstuften. weiter lesen in der nd
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Henrik Schrat. Grimms Märchen, Dornenrose – Liebe & Reise
Füchse stromern durch die Stadt. In seinem Projekt, alle Märchen der Brüder Grimm neu zu zeichnen, ist der Berliner Künstler Henrik Schrat bei Band II angelangt.
Von Katrin Bettina Müller, taz. die tageszeitung
Es gibt Arbeit, die hebt man sich gern für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr auf. Zum Beispiel Grimms Märchen lesen. Warum das Arbeit ist: Weil der Berliner Künstler Henrik Schrat sich vorgenommen hat, alle Märchen innerhalb von fünf Jahren zu illustrieren – und dann so ein Märchenbuch zu einem kleinen Kunstwerk wird. Im Dezember 2021 ist der zweite Band, „Dornenrose“, erschienen. (...)
Im September 2021 eröffnete in Frankfurt am Main ein neues Romantik-Museum, in dem Henrik Schrat das Personal der Grimm'schen Märchen über die Wände und die Decke eines Raums gestreut und miteinander verwoben hat. Der Esel aus den Bremer Stadtmusikanten ist zugleich ein Goldesel, und die Dukaten, die er scheißt, regnen in das Hemdchen des Sterntaler-Mädchens. Mit diesem Museumsauftrag wurde der Zeichner gewissermaßen offiziell zum Grimm-Experten geadelt.
Im Band „Dornenrose“ sind die Zeichnungen getuscht, viele Schattierungen von Grau geben ihnen etwas Malerisches. Oft verdunkeln große Tuschewolken die Seiten, Felsen türmen sich tiefschwarz, Hubschrauber kreisen über schmale Schluchten. ... weiter lesen in der taz
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Henrik Schrat
Grimms Märchen, Dornenrose – Liebe & Reise
erschienen bei NDR/Kultur und SWR von Andrea Schwyzer
240 Geschichten umfasst das Gesamtwerk. Der Künstler Henrik Schrat hat sich vorgenommen, alle Grimmschen Märchen neu zu bebildern - und zwar auf moderne Art und Weise. Im Hamburger Verlag Textem erscheint nun der zweite von insgesamt fünf Bänden unter dem Titel "Dornenrose - Liebe & Reise".
Neue, moderne Bilder zu altbekannten Märchen
Da braust sie von hinten durchs Bild: eng anliegender Anzug, schwarze, flatternde Haare, die in einen zerzausten Umhang übergehen. Breit sind die Räder des Motorrads, das genau auf die Dresdner Semperoper zusteuert.
Wir befinden uns mitten in der Geschichte von Dornröschen. Die Semperoper symbolisiert das Schloss, die schnittige Frau auf dem Motorrad ist die böse Fee, die Dornröschen gleich verwünschen wird. Der Künstler Henrik Schrat hat hier gezeichnet, mit elegantem Strich: chinesischer Pinsel auf Reispapier, Landschaften und Gesichter in Schwarz- und Grautönen. ... weiter lesen beim NDR oder SWR
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Henrik Schrat. Grimms Märchen, Dornenrose – Liebe & Reise. Bd. 2
Die 13. Fee auf dem Bat-bike, von Ulrike Merkel (Thüringer Allgemeine (Ilmenau))
Nach Arbeiten für den Bundestag und VW illustriert Greizer Künstler Grimms Märchen
Ob die Bundestagskantine in Berlin oder das Automuseum der Vw-autostadt in Wolfsburg: Henrik Schrats geniale schwarz-weiße Wandzeichnungen zieren prominente Orte in ganz Deutschland. Im September eröffnete das neue Deutsche Romantikmuseum in Frankfurt am Main, dessen heiligsten Raum Schrat ebenfalls mit dem Pinsel ausgestaltete. Im Grimmraum, wo die älteste Originalausgabe der Grimm’schen Märchen präsentiert wird, schuf der gebürtige Greizer eine detailreiche Märchenwelt, in deren Zentrum „Dornröschen“steht.
„Dornröschen“spielt auch in Schrats aktueller Buch-neuerscheinung eine Rolle. Innerhalb eines fünfjährigen Mammutprojektes illustriert der Künstler alle Märchen der hessischen Brüder neu. Dafür stellt er die 240 Texte in insgesamt fünf Bänden neu zusammen. Es habe einen besonderen Reiz, wenn man beispielsweise alle Geschichten, in denen ein Hans oder ein Gretel vorkomme, am Stück lese, erläutert der 53-jährige Wahlberliner.
Am gestrigen Dienstag erschien Band zwei „Dornenrose – Liebe und Reise“. Er enthält neben der Titelgeschichte auch weitere bekannte Märchen wie „Rumpelstilzchen“und „Allerleirauh“, aber auch weniger bekannte Geschichten wie „Fundevogel“oder „Bruder Lustig“.
„Dornröschen“lässt Schrat in Dresden spielen. Das Happy End gipfelt in einem großen Liebesbild, das James Camerons „Titanic“zitiert. Wie einst Leonardo Dicaprio am Schiffsbug umfasst der Prinz sein Dornröschen von hinten, das wie Kate Winslet die Arme ausbreitet. Wobei bei Schrat die Prinzessin androgyne Züge trägt. Auch beim Auftritt der 13. Fee bedient sich Schrat in der Popkultur: Vor der Semperoper braust die zornige Fee auf dem Bat-bike an, dem futuristischen Motorrad von Batman aus „The Dark Knight“. ... weiter lesen ...
oder zum Buch springen
Musik und Homosexualitäten
„Die Geige pfeift ihm ein Liedchen nach", rezensiert von "wilhelm" erschienen in: Rosige Zeiten, Oldenburg
Heterosexuelle Kabarettbesucher amüsieren sich über promiske Tunten. Im Gegenzug machte sich der vermutlich schwule französische Komponist Maurice Ravel in seiner musikalischen Komödie „Die spanische Stunde“, die gerade im Oldenburgischen Staatstheater gezeigt wird, über das promiske Begehren von Heteros und ihr Scheitern lustig. Das Werk zeige, „wie prekär, wie wenig natürlich und selbstverständlich, ja man könnte geradezu sagen: wie manieristisch das Konzept Heterosexualität verfasst ist“. Das jedenfalls meint der Frankfurter Musikwissenschaftler Ulrich Wilker in seinem Beitrag zu dem soeben erschienenen Buch „Musik und Homosexualitäten“.
Dieses ist das Ergebnis zweier von vier bemerkenswerten Tagungen, die zwischen 2016 und 2018 an der Bremer Hochschule für Künste zu den folgenden Themen stattfanden: zunächst „Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik“ (2017 in dem titelgleichen Buch des Verlags Olms dokumentiert) und das „Kolloquium aus Anlass des 90. Geburtstages des Komponisten Hans Werner Henze“, dann „Stand und Perspektiven musikwissenschaftlicher Homosexualitätenforschung“ sowie „Homosexualitäten und Manierismen“.
Die Vorträge der letzten beiden Tagungen liegen nun in gedruckter Form in dem hier besprochenen Band vor, der von der Oldenburger Musikwissenschaftlerin Kadja Grönke und ihrem Bremer Kollegen Michael Zywietz herausgegeben wurde. Der Plural ‚Homosexualitäten‘ soll einen Rahmen schaffen, der unterschiedliche Identitäten und die Breite des Spektrums von ‚Unauffälligkeit‘ bis zu ‚exotischer Selbstinszenierung‘ zu erfassen erlaubt. … (weiter lesen im Magazin rosige zeiten 191, Pdf S. 14).
Link zum Buch
Rezension von Matthias Guschelbauer, Publiziert am 16. 11. 2021
Musik und Homosexualitäten. Tagungsberichte Bremen 2017 und 2018 / Hrsg. von Kadja Grönke und Michael Zywietz, mit einem Vorwort von Kadja Grönke und Michael Zywietz. – Hamburg: Textem, 2021. – 460 S.: s/w-Abb., Notenbsp., Tab.
ISBN 978-3-86485-259-6 : € 29,00 (Broschur)
Der weitgefasste Titel der Publikation – Musik und Homosexualitäten – ist im Hinblick auf die Heterogenität der darin enthaltenen 25 Beiträge äußerst passend gewählt. Immerhin vereint der Tagungsbericht musikwissenschaftliche Aufsätze rund um Biographien, Werke, Rezeption, Beziehungen und Inszenierungen von homosexuellen Personen mit nicht-musikwissenschaftlichen Essays aus den Bereichen Literaturwissenschaft und Romanistik. Um der Fülle an verschiedenen Beiträgen eine Form zu geben, entschieden sich die beiden MusikwissenschaftlerInnen und Herausgeber Kadja Grönke und Michael Zywietz dazu, die Aufsätze drei Bereichen zuzuordnen und das Buch so in drei Teile zu gliedern.
Im ersten Teil mit dem Titel „Musikwissenschaftliche Homosexualitätenforschung“ steht die Methodik und Fachgeschichte im Hinblick auf das Thema Homosexualität im Mittelpunkt. Von den fünf Beiträgen in diesem Teil scheint vor allem der allererste von Eva Rieger erwähnenswert, in dem die Autorin zuerst einen kurzen sozialgeschichtlichen Überblick über die allgemeine Thematik der Homosexualitätenforschung gibt, bevor sie sich einer bunten Auswahl von auf Homosexualität fokussierten Forschungsarbeiten im Bereich der Musikwissenschaft widmet. Hans-Joachim Hinrichsen geht am Ende des ersten Teils der möglicherweise versteckten Homoerotik in Franz Schuberts Musik und der Forschungsgeschichte zur Sexualität des Komponisten nach, die seit einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 Gegenstand von Spekulationen ist. Warum dieser Beitrag nicht bei den Fallbeispielen im zweiten Teil der Publikation zu finden ist, wie man vielleicht annehmen könnte, erklärt sich dadurch, dass Hinrichsen keine eigenen neuen Fakten hinsichtlich der Frage nach Schuberts sexueller Orientierung präsentiert, sondern vor allem dem kulturwissenschaftlichen Verlauf der Schubert-Forschung in Bezug auf dessen mögliche Homosexualität nachgeht.
Im zweiten und umfangreichsten Teil des Tagungsberichts finden sich 14 Fallbeispiele, in denen sich Forscherinnen und Forscher mit einzelnen Individuen der Musikgeschichte auseinandersetzen. Dabei ist der zeitliche Rahmen sehr breit gefasst: Angefangen bei einem Aufsatz von Michael Zywietz, der sich dem wegen Sodomie verurteilten franko-flämischen Komponisten und Kapellmeister Nicolas Gombert aus dem 16. Jahrhundert widmet, und endend bei Beträgen von verschiedenen Autorinnen und Autoren zu Leben und Werk von Hans Werner Henze im 20. Jahrhundert umspannen die Beiträge rund vier Jahrhunderte. Ebenso wie die Schlüsselfiguren sind die Fragestellungen und die Schwerpunktsetzungen der einzelnen Essays äußerst divers: Es finden sich etwa Beiträge zur Homosexualität in Opern von Ethel Smyth, Hans Werner Henze und Leonard Bernstein, überraschenderweise jedoch auch zur Homosexualität in Instrumentalwerken wie etwa der c‑Moll‑Sinfonie von Hugo Staehle und Henzes Klarinettenkonzert Le Miracle de la Rose. Etwas abseits des direkten Musikbezugs und näher am Bereich der Sozialwissenschaften (jedoch keinesfalls fehl am Platz!) sind der Aufsatz zur Wahrnehmung der homosexuellen Musikerin Smaragda Eger-Berg von Anna Ricke, die von Juana Zimmermann verfassten Einblicke in die Beziehung zwischen dem Komponisten Benjamin Britten und dem Sänger Peter Pears und dessen Einfluss auf Brittens Musik und der den zweiten Teil beschließende Essay von Bernd Feuchtner, der sich der angelasteten Homophobie Theodor W. Adornos widmet.
Der sechs Essays umfassende dritte Teil des Buches mit dem Titel „Manierismen“ rückt etwas von der Musik weg hin zu allgemeinen Überlegungen von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern zum Manierismus, die sich jedoch ohne weiteres auch auf die Musik anwenden lassen. Im Gegenteil, diese Ausweitung der bei den Tagungen gehaltenen Vorträge (die nun verschriftlicht vorliegen) in nicht primär musikwissenschaftliche Gebiete war offensichtlich eine Bereicherung für die Autorinnen und Autoren der anderen Essays, da diese – so schreibt auch Kadja Grönke im Vorwort – den Blick auf das eigene Thema beeinflusste. Vermutlich liegt in dieser wechselseitigen Beeinflussung und der Anspornung, Theorien und Methoden aus anderen Disziplinen für die eigene anzunehmen, auch die durchwegs hohe und reflektierte Qualität der 25 Beiträge dieses Tagungsberichts, der sowohl für Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler als auch für musikinteressierte Laien leicht verständlich und daher zu empfehlen ist.
Kultur & Gespenster, „Archive und Depots und Lager und Halden und Haufen und Bunker und Verliese und Kammern“
Rezension von Andreas Heckmann, Am Erker 2021
Eine Eloge auf die neue Kultur & Gespenster, deren Thema „Archive und Depots und Lager und Halden und Haufen und Bunker und Verliese und Kammern“ lautet. Dem allen ist die 352 kostbare Seiten umfassende Ausgabe gewidmet, den Schatzkammern also, die aufbewahren, was nicht untergehen soll, aber auch den zufälligen Überbleibseln, dem achtlos Verwahrten, dem, was gerade seinem Vergessen-worden-Sein das Überleben verdankt. Dem irgendwo Gelandeten, das beglückt entdeckt, gehoben, geborgen, gerettet wurde. Auch das Heft selbst ist Archiv und Depot, da es zu großen Teilen ein Reader ist, der philosophische, ethnologische, historische, kunstgeschichtliche Arbeiten zum Thema versammelt, die oft das Zeug zu Klassikern haben: Nicky Reeves berichtet über die Inszenierung von Depots, wie es sie etwa im Berliner Museum für Naturkunde zu bestaunen gibt; Magdalena Grüner von Saatguttresoren auf Spitzbergen und Herbarien in Kopenhagen; Anna Zeit über Entsorgung auf Deponien, zumal von der Entsorgung des Westmülls auf ostdeutschen Deponien, die so idyllische Namen trugen wie Schöneiche oder Schönberg. Aber auch ein Artikel des Ethnologie-Doyens Fritz W. Kramer (*1941) aus der ZEIT ist zu lesen, in dem er davor warnt, jede völkerkundliche Sammlung übereilt zur Raubgutkollektion zu erklären, da die Gesellschaften, aus denen „erworben“ wurde, oft ein Verhältnis zu den eingeheimsten Gegenständen hatten, das sich nicht mit westlich-kapitalistischen Eigentumsvorstellungen erfassen lässt.
Alle Beiträge bewegen sich auf hohem theoretischem Niveau und bedienen sich zugleich einer beglückend konkreten, lesbaren, lebendigen Sprache. Und sie decken im Abseitigen das Bezeichnende auf, am schönsten vielleicht Rahel Wille, die von einer Löffelsammlung berichtet, die Marie Enderlin, Zeichnerin am Museum für Völkerkunde in Hamburg, gegen Ende ihres Lebens an ihren alten Arbeitgeber verkauft hat. Sich zur Zeichnerin für Bestandskataloge von Museen ausbilden zu lassen, war – so erfahren wir – ein Weg, wie Frauen ab 1900 ein Auskommen im Kunstbetrieb finden konnten. Und dass Enderlin Löffel aus aller Welt sammelte, also Gegenstände, an die billig heranzukommen war und die wenig Platz in Anspruch nahmen, zeugt von ihren begrenzten Möglichkeiten: ein ungemein anregender Beitrag, begleitet von erstaunlichen Fotos (wie das Heft ohnehin tolle Bildstrecken enthält, ob zu Vogelkothaufen oder pr.parierten Exemplaren des ausgerotteten Riesenalks). Und Anette Hoffmann widmet sich dem Thema „Kolonialgeschichte hören“ anhand von Aufnahmen des österreichischen Anthropologen Rudolf Pöch (mehr dazu in unserer Bücherschau).
Kultur & Gespenster 21: Archive und Depots, Textem Verlag 2021. € 16,00
Alexander Diehl schreibt in der Taz zu Kultur & Gespenster #21, „Archive & Depots“
Wissens-Lager Die Zeitschrift „Kultur & Gespenster“ steigt hinab in Archive, Depots, Keller und Kammern
Zum Beispiel Marie Enderlin: 1880 in Durlach bei Karlsruhe geboren, war sie ab 1911 Zeichnerin am Hamburger Museum für Völkerkunde. Zuvor hatte sie kurz am örtlichen Museum für Kunst und Gewerbe gearbeitet und davor wiederum einen nicht untypischen Bildungsweg absolviert – nicht untypisch für Frauen aus bürgerlichem Hause: Höhere Töchterschule, Gewerbeschule für Mädchen. In vielen Fällen war so was vor allem, wenn nicht einzig gedacht als Vorbereitung auf eine standesgemäße, eine „gute“ Heirat.
Enderlin scheint Anderes vorgehabt zu haben. Ihre Arbeitssuche fiel in eine Zeit, da der Direktor des Museums eine Arbeitsteilung ersonnen hatte für die Erfassung der immer größeren Bestände: männliche wissenschaftliche Hilfskräfte einerseits, schlechter bezahlte weibliche technische Hilfskräfte andererseits.
Über Enderleins künstlerische, aber auch kuratorische Ambitionen – und was aus ihrer 211 Exemplare umfassenden Löffelsammlung wurde: Darüber schreibt Rahel Wille in der jüngsten Ausgabe der Hamburger Zeitschrift Kultur & Gespenster. Wille war selbst jahrelang wissenschaftliche Mitarbeiterin am inzwischen umbenannten Museum und seit 2019 dort Kuratorin.
Das Heft widmet sich Archiven und Depots und Lagern und allerlei weiteren solcher Lagerstätten nicht immer ethisch einwandfrei erworbenen Wissens, in Museen, aber nicht nur. Das ist mal theoriegesättigt, mal kaum – aber dafür wissen Sie nachher über das Feld der „Archivologie“ Bescheid oder auch den „archival turn“ der 1990er-Jahre –genug jedenfalls für eine Konversation auf den Partys von morgen.
Es geht mal um näher Liegendes – ethnologische Sammlungen, koloniale Tonaufnahmen, Museen, die ihre Depots nicht maximal diskret behandeln, sondern sichtbar machen –, mal um Ferneres: Messies im Reality-TV, Künstlerbücher, ein Archiv der geschredderten Ausstellungskataloge. Und eine strukturierende Fotostrecke trotzt dem Begriff der Sammlung auch inspirierende Facetten ab.
Kultur & Gespenster #21, „Archive & Depots“, 352 S., 16 Euro
Link zum Magazin
Hopp oder top
Teilweise süffig: Die Bekenntnisse aus dem Ich-ich-ich-Männer-Journalismus von Michael Hopp
Wenn einer nach 20 Jahren Analyse noch ein Buch darüber schreiben muss, kann man sie als gescheitert ansehen. Wenn das Buch dann auch noch scheitert, noch peinlicher.« Ist Michael Hopps für alle Fälle Roman genanntes Buch über sein Leben, seine Süchte, seine Journalistenlaufbahn, seine Schulden, seine Affären und seine Jahre auf der Couch, in denen er das alles bei zwei Analytikerinnen aufzuarbeiten suchte, ein Flop? (ND vom 13.03.21 / Weiter lesen)