Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden Bd. 23
Wir leben heute in einer umfassenden Krise der politisch-staatlichen, aber auch der kulturellen Ordnungsmuster der Organisation und Aufteilung sozialer Aufgaben, Beiträge und Belohnungen. Unübersehbar sind die Symptome eines Verfalls der Gesellschaft, einer Rückbildung erreichter zivilisatorischer Standards in sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht.
Überall nehmen Diskurse der Not und des Mangels überhand, installieren sich Regime des Ausnahmezustands im Recht, in der Regierung, in den Familien, in den Arbeitsbeziehungen, ja bereits in der öffentlichen Sprache. Hatte früher »die Gesellschaft« sich vor der Macht des intellektuellen Arguments, des Wahrheits- und Gerechtigkeits-, des Demokratie- und Emanzipationsanspruchs zu rechtfertigen, so scheint es heute eher umgekehrt: Anstatt das Bestehende als falsch zu kritisieren, versucht sich die intellektuelle Klasse vor der Gesellschaft zu rechtfertigen.
Unter diesem Druck droht sich die Grundstimmung intellektueller Arbeit zu wandeln – und mit ihr die herrschende Sprache.
Wenn die Änderung der Welt ausbleibt und mit der Zeit eher unwahrscheinlicher als wahr- scheinlicher wird (und darin liegt wohl eine entscheidende Erfahrung unserer Zeit) – was sollen wir dann tun? Wenn die Emanzipation aufgeschoben ist, was nützt uns dann das Bewusstsein des Falschen? Müsste man dann nicht Adornos ethisch-politische Postulate noch genauer reformulieren: Es bleibt uns nichts anderes übrig, als, im Allgemeinen wie im Besonderen, nach Formen oder Spuren des richtigen Lebens im falschen zu suchen. Und zwar im Bewusstsein der Unmöglichkeit, aber eben auch der Möglichkeit des Unmöglichen.